Denn bei dir ist die Quelle
des Lebens, und in deinem
Licht sehen wir das Licht.
Psalm 36, 10
120 statt 2 PS am Glockenwagen – Titanen on tour in Estland
Heute, am 23.9.2018, ist der letzte Tag in Estland. Morgen geht es endlich in das große Russland. Wir begannen ihn ordentlich mit einem ökumenischen Abendmahlsgottesdienst. Friedlich feierten Katholiken, Evangelische, Waldenser und Konfessionslose das Heilige Abendmal des Herrn und tauschten den Friedensgruß. Kaum war das Amen gesprochen, tauchte eine estnische Fokloregruppe auf und tanzte mit uns einen melancholischen Tanz der estnischen Geschichte. Sie sind Mitglieder der einzigen estnischen Schule von Narva. Alle anderen sind russisch. In Folge des 2. Weltkrieges wurde die estnische Bevölkerung umgesiedelt und viele Russen siedelten dort an. Die Freude war zu spüren, als wir die kleine Friedensglocke auch als Geschenk zum 100. Geburtstag des Baltikums überreichten. Fröhlich begaben sich die Kinder dann auf eine Kremserfahrt.
Später fuhren auch wir „Trecker“ an das Meer. Die Mulis zogen bravorös den Kremser und Jana ritt ihren stolzen französischen Kaltbluthengst. Es war ein erhabener Anblick, dieses wunderbare Geschöpf in den unendlichen Wellen der Ostsee zu sehen.
Zur Mittagsschlafzeit tauchte dann plötzlich und unerwartet der Präsident des Estnischen Roggenverbandes Vahue Kukk auf. Ihm überreichten wir den Sack „Friedensroggen“ für Estland. Dieses auf dem Mauerstreifen in Berlin geerntete Friedensgetreide soll ausgesät werden und den Friedensgedanken in Estland lebendig halten. Der Chefroggenmann erzählte uns, dass in Estland der Verzehr von Roggen von 50kg auf 15kg pro Person zurückgegangen sei. Dies ist eine Entwicklung nach der Wende. Seit der Franzosenzeit war es feiner, das weiße Brot zu essen, aber erst jetzt konnte man zwischen den verschiedenen Mehlsorten wählen.
Wir wurden durch diese Begegnung an unseren Aufenthalt in Langaste erinnert. Dort schliefen wir im Schloss des Grafen Georg Friedrich von Berg. Dieser wurde in Estland der „Roggengraf“ genannt. Er hat die Meloration vorangetrieben, das „Toripferd“, ein schweres Warmblut, gezüchtet und 1875 die Roggensort „Sangaste“ entwickelt. Sie war sehr winterfest und hatte 2m lange Halme und brachte damit viel Stroh. So konnte Volk und Vieh versorgt werden. Diese Getreidesorte gewann 1889 auf der ersten EXPO in Paris die Goldmedaille. Noch heute wird dieser Mann vereehrt und auf seinem Grab wächst Roggen.
So haben wir bis zum letzten Moment immer wieder neue Themen und Begegnungen. Da bleibt kaum Zeit, alles für den Grenzübertritt vorzubereiten. So muss noch der Glockenwagen gefettet und vorbereitet werden.
Volker Manz, einer der beiden Treckgeistlichen, schreibt ganz liebevoll über unser Herzstück, das gleich nach den Pferden kommt:
„Der Glockenwagen ist der am besten behütete Wagen unserer Kolonne. Alle passen auf, dass die Friedensglocke fleißig geläutet wird und so die Kunde von uns „in allen Landen erschallt“. Aber wir mussten auch schon häufig verschiedene Dinge am Glockenwagen reparieren: Räder, Bremsen und zuletzt die Abdeckplane. Wobei ich, wenn es um technische Dinge geht, meist nur staunend daneben stehe. Einmal mussten zwei Räder ausgetauscht werden, gut dass wir Ersatzräder mitgenommen hatten! Wir konnten die Werkstatt einer Fachhochschule nutzen, bei der wir im Kalinigrader Gebiet Station machten. Zimmermann Eike hat beim Radaustausch alles gut angeleitet, so dass wir am nächsten Tag weiterfahren konnten. Bei jedem Radwechsel ist übrigens unser Wagenheber ein echter Hingucker. Die Deichsel wird vom Wagen abgehängt. Sie dient dann als Hebel, um den Wagen mit Hilfe einer Milchkanne (!!!) anzuheben. Eine Bohle wird untergelegt und der Wagen somit aufgebockt. Jetzt ist alles bereit zum Radwechsel. Ein andermal, kaum in Litauen angekommen, versagten die Bremsen am Glockenwagen. Ungebremst kann kein Pferdewagen (mit Fahrgästen) fahren, das wäre dann doch zu gefährlich. Was tun? Als Helfer in der Not kam ein litauischer Landwirt zu uns, der uns auf der Straße gesehen hatte und eigentlich „nur“ Heu verschenken wollte. Er fuhr schnell nach Hause und kam mit Ersatzbremsleitungen aus seinem alten Lada „Niwa“ zurück, so dass am Abend der Glockenwagen wieder einsatzfähig war. Bis dahin wurde er von Bernd mit seinem Land Rover Defender abgeschleppt. 120 PS statt 2 PS, auch das hat der Glockenwagen (im Schritttempo) überstanden. Und schließlich konnte auch ich dem Glockenwagen einmal helfen. Im Baumarkt kaufte ich eine riesige Plane, da die Plane am Wagen, im Bereich des Glockenstuhls, durchgescheuert war. Bei Regen wurde so ein Teil des Wagens nass. Die Plane wurde zurechtgeschnitten und der Glockenwagen ist nun dicht.
Technische Dinge begleiten (und bestimmen!) unser Leben. Meist nehmen wir sie erst wahr wenn etwas nicht funktioniert. Gott sei Dank gibt es bei den „Titanen on Tour“ genügend „Techniker“, die mithelfen, dass alle Wagen rollen und wir die Friedensglocke nach Weliki Nowgorod bringen. Auf dem Weg dahin hilft uns die Glocke, die Friedensbotschaft zu verbreiten. Friede sei ihr erst Geläut.“
Nun ist es Zeit zu Bett zu gehen. Morgen wollen wir läutend über die EU-Außengrenze nach Russland fahren. Neuen Abenteuern entgegen.